Deutschlandfunk Kultur, Politisches Feuilleton, Februar 2023
Bild: Ofer Waldman
In Israel demonstrieren seit Wochen zehntausende Menschen gegen die neue Regierung. Als ein Freund aus Deutschland ein Bild von ca. 100,000 Demonstrierenden aus Tel Aviv postete, bin ich, der deutschen Debatte über Israel leid, in die Versuchung gekommen darunter zu schreiben: So viele Antisemiten an einem Ort!
Hinter dem Zynismus versteckt sich eine bittere Realität.
Die israelische Demokratie kämpft um ihr Leben. Das Skript, das die neue israelische Regierung umsetzt, wurde in Polen, Ungarn und anderen Ländern geschrieben. Umbau der Justiz, Einschüchterung der Medien und der Wissenschaft, populistische Hetzkampagnen gegen Andersdenkende, Abschaffung von Frauen- und LGBTQI-Rechten, die Machtübernahme durch korrupte Politiker – und alles im Namen eines Kampfes gegen angeblich allmächtige Eliten. Das israelische Grundgesetz über „Die Würde des Menschen und seine Freiheit“ soll degradiert werden. Das oberste Gericht, das anhand dieses Gesetzes die Bürgerinnen und Bürger Israels vor der Willkür des Staates schützte, sowie – selten genug – die Palästinenser in den besetzten Gebieten, soll kastriert werden. Diese Besatzung ist dabei das israelische Gewürz in der polnisch-ungarischen Suppe. Sie höhlt die israelische Demokratie seit über fünf Jahrzehnten aus. Und nun droht diese zu zerbrechen, denn Besatzung und Demokratie sind miteinander nicht vereinbar.
Die Ideale der israelischen Unabhängigkeitserklärung, die in wenigen Monaten ihren 75. Geburtstag feiern soll, weichen einer religiös-extremistischen, nationalistischen Dystopie.
Dagegen erhebt sich eine beeindruckende Koalition. Rechts und links, religiös und säkular, alt und jung, jüdisch und arabisch. Friedensaktivisten und ehemalige, hochrangige Militärs. Aus den Universitäten, aus der Industrie, aus der Kultur- und Medienwelt, aus der Justiz. In Tel Aviv, Haifa, Jerusalem und Beer Sheva. Ihr Aufschrei gilt der neuen Regierung – aber auch ihren Verbündeten weltweit. Und so schlägt den Demonstrierenden eine Welle der Bewunderung und Unterstützung aus aller Welt entgegen. Joe Biden und Emanuel Macron richteten deutliche Mahnungen an die neue Regierung. Weltweit drücken Prominente jüdische Stimmen ihre Angst um die Zukunft Israels aus.
Aber was ist mit Deutschland?
Während die israelische Demokratie um ihr Leben kämpft, während die israelische Zivilgesellschaft nach Unterstützung schreit, beschäftigt sich Deutschland, mal wieder, zuerst mit sich selbst. Abbau der israelischen Demokratie? Hier widmet man sich lieber dem Umbau im Ministerium von Claudia Roth. Einschüchterung der Medien und Wissenschaften, de-facto Annexion der besetzten Gebiete? Hier schmeißt man lieber noch eine Diskussionsrunde zur Documenta15.
Die Rettung der israelischen Demokratie ist nicht wichtiger als Antisemitismusbekämpfung. Wer die israelische Schieflage thematisiert, riskiert es in der Tat, giftigen Applaus von der falschen Seite zu bekommen. Also von denen, die ihren Antisemitismus mit dem Deckmantel der Kritik an Israel umhüllen. Aber darf man sich von diesem Applaus einschüchtern lassen? Ist das ein berechtigter Grund, der israelischen Zivilgesellschaft die Unterstützung zu verwehren? Ist es nicht höchste Zeit, die selbstbezogene, ja selbstgefällige Abstinenz Israel gegenüber abzulegen?
Die Demonstrierenden in Israel sind natürlich keine Antisemiten: Sie kämpfen für die demokratische Zukunft ihres Landes.
Wo bleiben die Freunde Israels in Deutschland? Wo bleibt die berühmte deutsch-israelische Freundschaft?!
Wer es mit dieser Freundschaft ernst meint, soll sich jetzt mit der israelischen Zivilgesellschaft solidarisieren.
Comments